Das Welte-Mignon
Am 21.November 1904 wurde Musikgeschichte geschrieben. Der Orchestrion-Fabrikant
Edwin Welte aus Freiburg im Breisgau, und sein Partner Karl Bokisch
liessen damals, nach rund 20-jähriger Entwicklungsarbeit, das
„Welte-Mignon“ Reproduktionsklavier patentieren. In
der Patentschrift steht, dass „alle Feinheiten des rhythmischen
und dynamischen Vortrages mit völligem Erfassen der persönlichen
Note“ wiedergegeben werden könnten. Bis dahin litten
Wiedergabe-Klaviere alle darunter, dass die dazu verwendeten Musikrollen
mechanisch, Takt für Takt unter Zuhilfenahme eines Metronoms
gezeichnet wurden und somit schablonenhaft tönten. Welte berichtete
darüber folgendes: „Wir sahen daher als einzige Lösung,
die all diese Fehler beseitigt, die Aufnahme des persönlichen
Spiels der Künstler selbst und dessen Wiedergabe auf einem
entsprechenden Apparat. Eine phonographische Aufnahme und Wiedergabe
war von vornherein ausgeschlossen, da der Phonograph bekanntlich
den Klavierton sehr schlecht und entstellt wiedergibt. Wir waren
also gezwungen, als Wiedergabeinstrument wieder ein Klavier zu benutzen,
um den natürlichen Klavierton, der durch nichts anderes ersetzt
werden kann zu erhalten“.
In der Tat spielten die bedeutendsten Pianisten der Zeit für
„Welte-Mignon“. Eugene d’Albert, Emile von Sauer
und Bernhard Stavenhagen gehörten zu den begabtesten Schüler
von Franz Liszt, Richard Wagners Freunde Felix Mottl und Wilhelm
Kienzl, oder berühmte Komponisten wie Edvard Grieg, Camille
Saint-Saëns, Gustav Mahler, Richard Strauss und Claude Debussy,
alle machten sie Aufnahmen in Freiburg im Breisgau. 1911 umfasste
der Katalog bereits mehr als 140 Namen von Interpreten. Ohne Edwin
Weltes Erfindung hätten wir heute wohl kaum brauchbare Tondokumente
von all diesen Meistern des Klavierspiels. Die elektronische Aufnahmetechnik
mit einem Mikrofon war damals noch nicht erfunden, und Schallplatten
aus dem Grammophon-Trichter konnten besonders bei Instrumenten wie
dem Klavier, klanglich überhaupt nicht überzeugen. Erstmals
gab es nun einen Apparat, der nicht nur Tonträger reproduzierte,
sondern, der selbst ein Musikinstrument war, das genau gleich spielte,
wie es der Künstler bei der Aufnahme tat, und zwar mit allen
pianistischen Nuancen und Feinheiten des Anschlages.
Die Erfindung des Systems von „Welte-Mignon“ war ebenso
einfach wie genial, die Ausführung aber, ist ein technisches
Wunderwerk. In diesem pneumatischen Instrument befindet sich ein
Labyrinth von Luftröhrchen und Ventilen. Als Tonträger
dienen Papierrollen, in die Tausende von kleinen Löchern gestanzt
wurden. Während des Abspielens gleitet das Papier über
einen Mundharmonika-ähnlichen Kamm. Jedes Loch löst im
Flügel eine konkrete Aktion aus. Die meisten lassen einen Ton
anschlagen, einige sind verantwortlich für die Pedale und vereinzelte
steuern den Luftstrom, der sich so durch das ausgeklügelte
System, stufenlos regulieren lässt. Dies erlaubt nicht nur
die Wiedergabe einer grossen Dynamik, sondern auch Feinheiten wie
differenzierte Klangfarben, bis hin zur Persönlichkeit des
Anschlages. Um die Authentik zu gewährleisten, mussten die
Künstler die Rollen abhören, und mit ihrer Unterschrift
bestätigen, dass sie ihr persönliches Klavierspiel wieder
erkannt hätten.
Weiss man heute fast alles über den Abspiel-Apparat, so ist
fast nichts über die Aufnahme-Technik bekannt. Nach den Aufnahmesitzungen
wurde das Gerät jeweils versiegelt. Die ausführlichen
Details über das Verfahren wussten nur die Herren Welte und
Bokisch. Bewusst machten sie daraus ein mysteriöses Geheimnis,
welches sich werbewirksam vermarkten liess.
Es wird berichtet, dass die Klaviatur des Aufnahme-Flügels
durch elektrische Kabel mit einem geheimnisvollen Schrank verbunden
gewesen sei, in dem sich ein Seismograph befunden haben soll. Andere
vermuten, dass sich unter jeder Klaviertaste ein mit Quecksilber
gefülltes Röhrchen befand, das an einen Stromkreislauf
angeschlossen gewesen sei. Während dem Spiel habe man die Veränderung
der Stromspannung, und somit die Geschwindigkeit des Anschlages
gemessen, und das Resultat auf einer Papierrolle aufgezeichnet.
1944 wurde die Fabrik mit den Aufnahmegeräten und allen Aufzeichnungen,
bei einem Bombenangriff zerstört. Heute ist es deshalb unmöglich,
neue „Welte-Mignon“ Klavierrollen aufzunehmen.
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